Die Graswurzle Bildungsgruppe trifft Prof. Gerald Hüther
„Echte Liebe ist das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Kindes.“
Von Jolanda Betschart und Kurt Scherrer
Als Zweiervertretung unserer Graswurzle-Arbeitsgruppe Bildung sind wir anfangs November 2024 in Basel mit Prof. Dr. Gerald Hüther verabredet. Am Rande einer grösseren Wochenend-Veranstaltung, an der er hier als einer der renommiertesten und bekanntesten Hirnforscher und Neurobiologen Europas sprechen wird, haben wir bereits am ersten Nachmittag Gelegenheit bekommen, uns in Ruhe mit ihm zu treffen. Und bald schon sitzt er uns gegenüber; ein spontaner, sympathischer, unkomplizierter Mensch, mit dem man sofort ins Gespräch kommt. Uns als Pädagogen interessiert natürlich vor allem, was er aus Sicht seiner Fachwissenschaft zu Fragen rund um Schule, beziehungsweise schulische Entwicklungsbedingungen für Kinder und das Lernen schlechthin zu sagen hat.
Dass Prof. Hüther europaweit einer der gefragtesten Gesprächs- und Interviewpartner ist, liegt bestimmt nicht nur an seinen zahlreichen Veröffentlichungen, sondern wohl auch daran, dass er weit über sein eigentliches Fachgebiet hinaus, stets das gesamte Wohlbefinden des Menschen miteinzubeziehen sucht. In diese quasi ganzheitliche Betrachtungsweise gehören bei ihm als Forscher und Neurobiologen also nicht nur die entsprechenden neuronalen Verbindungen, die entsprechenden Hirnfunktionen und deren Lokalisationen, nebst den stammesgeschichtlichen Ursprüngen und Entwicklungen von Anatomie und Hirnphysiologie. Besonders wichtig sind ihm zum besseren Verständnis einzelner Menschen immer die individuelle Vorgeschichte, und hier besonders der lebensgeschichtliche Erlebnishintergrund. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Damit bewegt er sich im pädagogischen bzw. psychologischen bis psychiatrischen Grenzgebiet. Sein besonderes Interesse gilt den sogenannten „Verwicklungen“, wie er die Phänomene nennt. Andere Fachgebiete würden vielleicht von Entwicklungsstörungen, Ängsten, Irrungen, psychischen Verletzungen, Fehlleitungen, Traumata, Hemmungen oder Ähnlichem sprechen. Verwicklungen entstehen nach seinem Verständnis immer im Zusammenhang mit Spezialisierungstendenzen und sind ausgeprägte Hirnvernetzungen. Im Vordergrund seines 2015 gegründeten Instituts für Potentialentfaltung geht es um individuelle Aufarbeitung und die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale, wobei als Potential das gilt, was einem Menschen möglich ist oder möglich wird im Rahmen eines erweiterten Möglichkeitsraumes. Verwicklungen sollten ent-wickelt werden, denn ein fortschreitender Verwicklungsprozess hemmt, beschneidet Potential, beschränkt oder verhindert eine mögliche Entwicklung und hält den Menschen insgesamt in seinen eigenen Vorstellungen und Überzeugungen gefangen. Darum sollen Menschen sich gegenseitig aus ihren Verwicklungen heraushelfen, sollen lernen, sich zu ent-wickeln, auszuwickeln, sollen lernen, gegenseitige Entwicklungshelfer zu werden.
Wenn man beispielsweise ein dreijähriges Kind, das in der Regel noch keine nennenswerten Verwicklungen hat, beim spielerischen Turmbauen mit Holzklötzen beobachtet, will es diesen so gut wie nur möglich machen. Das Bestreben zu
Höchstleistungen ist angeboren, Kinder wollen nicht mittelmässig sein, sie wollen schon von sich heraus immer die Besten sein. Dann kommt die Schule. Dort werden Leistungen bewertet, um daraus ein Ranking zu machen zwecks Selektion in Richtung eines „best performers“. Dahinter steht als wesentlicher Aspekt unseres Schulsystems die Vorstellung, dass es den Wettbewerb braucht, damit Höchstleistungen zustande kommen. Aber stimmt das? Braucht es das? Geht das nicht ohne Wettbewerb, ohne Leistung, ohne Selektion? Wollen wir diese Theorie in der Schule tatsächlich noch immer anwenden? Diese nach wie vor vorherrschende Vorstellung erinnert sehr an die einseitige wissenschaftliche Evolutionstheorie nach Darwin, wonach der Kampf ums Dasein Überlebens- bzw. Reproduktionsvorteile bringen kann. Die Evolutionstheorie aber beschreibt Spezialisierungsprozesse, nicht den evolutionären Entwicklungsprozess selbst, der zu bestimmten Ausprägungen führt, zu Herausbildungen, wie die
Entwicklungsvorgänge im Tierreich zeigen. Spezialisierung heisst auch, dass anderes verloren geht oder zumindest nicht möglich wird, womit andere wichtige Bereiche im Leben fehlen. Unser heutiges Schulkonzept ist ein Wirtschaftskonzept, das auf Wachstum ausgerichtet ist. Leistungen werden nur bewertet, weil die Schule den
Auftrag hat, zu selektionieren. Nicht zuletzt aus der Psychologie aber wissen wir, dass die intrinsische Motivation durch Druck kaputt geht. Damit entstehen zwangsläufig Verwicklungen, denn an die jungen Menschen werden Vorstellungen herangetragen, denen sie genügen sollen, nach denen sie sich ausrichten sollen, die ihnen aber nicht entgegenkommen, die ihren natürlichen Bestrebungen, insbesondere ihren zwei Grundbedürfnissen nach Verbundenheit sowie Autonomie und Freiheit, nicht entsprechen. Was bei Tieren in der Evolutionsgeschichte teils
Opfer ihrer eigenen Spezialisierungen wurden, nennt Hüther bei Menschen Verwicklungen.
Damit meint Prof. Hüther aber nicht, Spezialistentum sei grundsätzlich falsch oder etwas Schlechtes; im Gegenteil, vielzellige Organismen dürfen und sollen Spezialisten werden. Den einen Weg aus drohenden Verwicklungen, so meint er, zeigt uns die Entwicklungsgeschichte der Tierwelt, wo Spezialisten manchmal eine Gemeinschaft bilden, wodurch dann dank Zusammenarbeit und gegenseitigem Austausch einseitige Spezialisierungen weitgehend kompensiert werden können. Das ergibt auch eine Verbundenheit im Aussen. Dazu brauchen wir also gerade eben nicht Wettbewerb und Ausrottung. Universitäten beispielsweise sprechen oft von Interdisziplinarität. Diese wird aber nur vordergründig gelebt, in Wirklichkeit schaut jeder nur auf seine eigenen Vorteile und Entwicklungen. Je mehr Spezialisierung, desto mehr Verbundenheit braucht’s, damit man sein Potential nicht verliert. Den anderen Lösungsweg der Evolution sieht Prof. Hüther – und da steht seiner Ansicht nach im Moment die Menschheit –, dass im vielzelligen Organismus das eigene Zellsystem so konstruiert ist, dass die (Hirn-)Zellen so plastisch und formbar bleiben, dass fortlaufend angepasst werden kann. Mit anderen Worten: Der eigene Spezialisierungsprozess mit seinen Verwicklungen und Sackgassen kann erkannt, bewusst gemacht und angepasst werden.
Fast stichwortartig kurz erklärt hier Prof. Hüther im Zusammenhang mit dem Hirn zunächst die vier Stufen des Lernens: Die Aneignung von Wissen als kognitive Leistung bleibt im Kopf, im Hirn, im Cortex. Die zweite Stufe des Lernens, das Erkennen, der Erkenntnisgewinn, bleibt noch auf kognitiver Ebene im Kopf und bedeutet, ich kann etwas anwenden, es hat aber noch keinen direkten Einfluss auf mein Leben. In einem dritten Schritt geht ein gewisses Ergriffensein einher mit dem Prozess des Begreifens, das heisst, das Kognitive findet den Weg allmählich vertiefter in den Körper zu den Gefühlen (limbisches System, Hippocampus, Amygdala, usw.) und verbindet sich mit diesen. Auf der vierten und letzten Lernstufe erst sprechen wir von Verstehen, von einem tiefen Verständnis. Dieses durchdringt dann den ganzen Körper bis in die Füsse. Erst wenn ich wirklich verstanden habe, kann oder muss ich handeln, sind Veränderungen möglich.
Was können wir als einzelne Menschen tun? Kinder zeigen mit ihren natürlichen Verhaltensweisen und ihrer Bereitschaft, sich immer wieder auf Neues einzulassen, oft eine gewisse „Unverwickeltheit“, was z.B. durch ihre Entdeckerfreude, ihren Gestaltungsdrang, ihre Innigkeit, ihre Verbundenheit, Offenheit, Neugierde, usw. zum Ausdruck kommt. Wir sollten günstige Bedingungen schaffen für ein freies und spielerisches Erkunden und Entdecken. Geschulte, kompetente und empathische Erwachsene sollen die Kinder begleiten, sie ermutigen, sie inspirieren. Und wir Erwachsene sollten aufhören, die Kinder stetig zu gängeln und sie nach unseren eigenen Vorstellungen formen zu wollen. Bei einem verwickelten Jugendlichen kann es Wunder wirken, wenn man ihn eine Zeitlang völlig neue und komplett andere Erfahrungen erleben lässt, wenn man mit ihm zusammen beispielsweise während einiger Monate auf eine lange Wanderung geht. Und wir können den Kindern und Jugendlichen als Vorbilder vorleben, was es heisst, ein zufriedener, autonomer, verbundener erwachsener Mensch zu sein – ein Vorleben als mündiger und nicht mehr als ein bedürftiger Mensch.
Entscheidend über allem steht wohl der Punkt, dass sich ein Kind angenommen, unterstützt und geliebt fühlen muss, dass bei mir als sein Lehrer bei allem Sagen und Tun deutlich zum Ausdruck kommen muss, dass ich quasi ein grösseres Interesse an ihm, als mein Schüler habe, als an mir selbst, oder anders ausgedrückt, mit Prof. Hüther’s Worten: Das Kind muss spüren können, dass sein Gegenüber ein bedingungsloses Interesse an seiner Entfaltung hat.
Eine wundervolle Anschauung von
Entwicklung. Im Verstehen- Lernen
des anderen entdecke ich auch mich
als Individualität anders und bin auf dem Weg zu „ Erkenne Dich selbst „
und dieses eröffnet in mir noch unentdecktes Potenzial.