Frei lernen und ins Leben hineinwachsen

Zum Vortrag von Florian Knaus durfte Claudine Birbaum, die Graswurzlerin und Veranstalterin, statt der erwarteten zwanzig rund fünfzig Menschen begrüssen, weshalb sie auch den Saal wechseln musste.

Im ersten Teil tauchte Florian Knaus in seine eigene Lebensgesichte ein. «Klassisch unterrichtet worden bin ich noch nie in meinem Leben», sagte er und führte weiter aus: «Ich habe immer frei gelernt und bin meiner Begeisterung und meiner Freude gefolgt.»

Eltern gründeten Schule

Als es Zeit für ihn gewesen wäre, eingeschult zu werden, fanden seine Eltern, es sei noch zu früh. «Sie hatten bei uns vier Kindern beobachtet, dass wir mit grosser Begeisterung jeden Tag Neues entdeckten und die Welt erkundeten. Dieses freie natürliche Lernen wollten sie nicht unterbrechen. Deshalb entschieden sie, dass wir nicht die öffentliche Schule besuchen.» Stattdessen gründeten seine Eltern – nach der Bewilligung für häuslichen Privatunterricht – selbst eine Schule. So durfte Florian zu Hause und in der Schule zusammen mit seinen Geschwistern und mit Kindern anderer Familien frei in die Welt hineinwachsen. «Mein grösstes Glück ist, dass sie mir diesen Weg ermöglichten», sagte er.

Auch ohne Lehre erfolgreich

Auch eine Lehre oder weiterführende Ausbildung absolvierte er nie. Und trotzdem hat er seinen Weg erfolgreich ins Berufsleben hinein beschritten. Heute wirkt er als Lernbegleiter an der Schule seiner Eltern. Darüber hinaus engagiert er sich bei «time4» auch für Jugendliche, denen er – zusammen mit einem Team – nach der obligatorischen Schulzeit eine Alternative zur herkömmlichen Berufslehre oder Mittelschule anbietet. «Das ist wunderschön!», sagte er. 

Im Sommer 2019 sind sie mit zehn Teilnehmenden gestartet. Unterdessen begleitet time4 rund 30 Jugendliche auf ihrem Weg und in ihren individuellen Entwicklungs- und Lernprozessen. «Sie lernen so, wie ich es in meinem ganzen bisherigen Leben getan habe. Dem afrikanischen Sprichwort entsprechend: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht» machen die Jugendlichen ihre Lern- und Entwicklungsschritte, sobald sie dazu bereit sind. Sie entscheiden also individuell was, wann, wo und wie sie lernen möchten. Dabei entwickeln sie sich zu freien, motivierten, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Jugendlichen. Das macht so viel Freude! Eine schönere Aufgabe hätte ich mir nicht erträumen können! Dafür bin ich unendlich dankbar!»

Schweizweite Vorträge

Florian erteilt auch in der ganzen Deutschschweiz Vorträge über seine Erfahrungen und seine Erkenntnisse aus seinem Lebensweg, der durch Begeisterung und intrinsische Motivation, also Motivation aus sich selbst heraus, geleitet ist. Dabei freut er sich, dass er bei seinen Auftritten auf immer mehr Menschen trifft, die sich für ein freies, selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben begeistern. «Es ist wunderbar, dass ich sie durch meine Worte weiter inspirieren und ermutigen kann», sagte er freudestrahlend.  

Jeder lernt schreiben und lesen

Nach seinem Vortrag in Chur wurde die Möglichkeit rege genutzt, Fragen zu stellen. Es tauchten einige Ängste und Unsicherheiten auf wie etwa: Was, wenn mein Kind mit 9 Jahren noch nicht liest und schreibt? Florian Knaus entgegnete: «Gerade Jungs entwickeln meist erst ihre Grobmotorik und erst danach ihre Feinmotorik. Ich habe schon oft erlebt, dass Jungs mit 9 Jahren noch nicht gut schreiben können.»

In den 20 Jahren, in denen es die Schule seiner Eltern gibt, habe noch nie ein Kind die Schule verlassen, ohne lesen und schreiben gelernt zu haben. «Wenn wir Erwachsenen kein Problem daraus machen, dass nicht jedes Kind zum gleichen Zeitpunkt das Schreiben lernt, ist es auch kein Problem». Auch er habe erst später als andere schreiben gelernt. «Bei uns sind also stets die Freude und die Neugier der Antrieb. Lernen ist dann das, was von allein passiert, wenn ein Kind die Welt entdeckt.»