Erzählkultur: Von der Kunst, Geschichten zu erzählen

Geschichtenerzählerin Susanne schlägt nicht einfach ein Buch auf und liest daraus vor. Die Märchen, die sie erzählt, sind die Ursprünglichen, die von Mund zu Mund überliefert wurden.

Inmitten der Stadt Zürich, fernab vom Trubel im Schigu Park, wird die grüne Oase zum Märchenschauplatz. Gross und Klein versammeln sich um die zwei Graswurzlerinnen Susanne und Karin und lauschen den Geschichten aus Nah und Fern.

An kälteren Tagen findet sich die Gruppe auf dem Heuboden Schindlergut ein. Die anschliessende «Teiletä» – oder beim Grillieren im Park – regen zu spannend Gesprächen an und neue Freundschaften werden geschlossen.

Die Überlieferungen werden frei erzählt; Bücher oder Bilder kommen nicht zum Einsatz. Die Vorbereitungen für die Märchenveranstaltung sind zeitintensiv: «Während zwei Wochen lerne ich die Geschichten täglich für eins bis zwei Stunden auswendig», betont Susanne. Dabei studiert sie verschiedene Charakter-Stimmen ein, um das Märchen so lebendig und unterhaltsam wie möglich zu gestalten.

Wer professionell Märchen erzählt, kommt ohne Kostüme aus: «Das würde nur von der Geschichte ablenken», weiss Susanne, die das Geschichtenerzählen bei der Märchenstiftung «Mutabor» erlernt hat. «Passende Mimik, Gesten und verschiedene Stimmlagen reichen aus, um die Aufmerksamkeit der Kinder und Erwachsenen zu gewinnen und sie zu verzaubern.» Auch sei es wichtig, den Blickkontakt zu halten, erläutert Susanne.

Mit ihren Events wollen Susanne und Karin die Erzählkultur fördern. Dabei geht es um die Märchen in ihrer ursprünglichen Form. Vieler dieser Überlieferungen haben sich über die Jahre verändert. «Das ist genau wie heute. Wenn wir etwas weiterzählen, gehen ein paar Einzelheiten verloren, während neue dazukommen», lacht Susanne und fügt hinzu: «Die Botschaft muss aber immer dieselbe bleiben.»

Die Ursprungsquelle der Geschichten ausfindig zu machen ist eines der Kernelemente der Erzählkultur. Erst im 18. Jahrhundert schrieben Sprachwissenschaftler, wie die Brüder Grimm, die Erzählungen nieder und druckten sie in Buchform.

Die Märchen werden nicht 1:1 übernommen, sondern variieren je nachdem, wer die Geschichte erzählt: «Das Märchen wird dem eigenen Dialekt angepasst und erhält dadurch nochmals eine persönliche Note», sagt Susanne. Bereits im vergangenen Jahr führten die Graswurzlerinnen Märchenanlässe in Männedorf durch; diese waren ausschliesslich für Erwachsene. Mit dem Ziel, beide Standorte mit spannenden Geschichten zu versorgen, finden diese nach der Sommerpause im zweimonatigen Turnus statt.

Auf die Frage, welches Susannes Lieblings-Märchen ist, antwortet sie spontan: «Der Junge und der Orangenbaumgeist». Ein Märchen aus Mikronesien, einer Insel im Pazifischen Ozean. Die Überlieferung erzählt die Geschichte eines kleinen, armen aber mutigen Jungen, der reich beschenkt wird. Das mystische Element des Geistes, der im Wipfel des Orangenbaums wohnt, macht die Erzählung geradezu perfekt, um der ganzen Familie eine zauberhafte Welt zu eröffnen.

Text: Barbara Hagmann

(v.l.) Susanne und Karin auf dem Heuboden Schindlergut

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